In einer seiner Fernsehauftritte der letzten Tage hat sich Peter Filzmaier mit dem heiklen Begriff Volkskanzler auseinandersetzt. Nach einer kurzen Replik auf die Genesis des Ausdrucks - es ist kein Nazi-Wort, sondern viel älter, aber Hitler hat sich nach seiner Machtergreifung 1933 kurze Zeit als Volkskanzler bezeichnen lassen, ehe er 1934 per Gesetz den Titel Führer und Reichskanzler erhielt - kam Filzmaier zu dem Schluss: Volkskanzler soll er sich lieber nicht nennen.
Ein Nazi-Ausdruck per se ist Volkskanzler also nicht. Laut Wikipedia gilt als ältester Beleg ein Artikel in der steirischen sozialdemokratischen Parteizeitung "Arbeiterwille" vom 11. Oktober 1917, worin die Forderung nach einem Volkskanzler erhoben wird. Dessen Politik solle sich nach „parlamentarischen Grundsätzen“ orientieren. Im November 1918 bezeichnete das "Berliner Tageblatt" den Sozialdemokraten und späteren ersten Reichspräsidenten Friedrich Ebert als Volkskanzler. Das Wort stammt also aus der Übergangszeit von der Monarchie zur Republik und war meist sozialdemokratisch besetzt.
Erst später haben sich die Nationalsozialisten des Ausdrucks bemächtigt - für kurze Zeit. Dass im "Duden" des Jahres 1941 Volkskanzler als "Bezeichnung für Hitler zum Ausdruck der Verbundenheit zwischen Volk und Führer" gewertet wurde - Filzmaier wies darauf ausdrücklich hin - ist wenig relevant. Schon 1939 hatten die Nazis der Presse geboten, Hitler nur als Führer zu bezeichnen. Manchmal hinken die Wörterbücher der Realität hinterher. Oder war der "Duden" damals nationalsozialistischer als die offizielle nationalsozialistische Diktion?
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bekam der Ausdruck im allgemeinen Sprachgebrauch jene Schattierung, die wir heute kennen. Volkskanzler sind jene Regierungschefs, die sich durch besondere Volksnähe auszeichnen: Leopold Figl und Bruno Kreisky bekamen dieses Attribut, in Deutschland Ludwig Erhard und Willy Brandt.
Alfred Gusenbauer hat am Tag nach seinem knappen Sieg über die ÖVP mit 35,3 zu 34,3 Prozent im Oktober 2006 gegenüber der "Krone" gemeint: "Ich bin anders, und ich will einen anderen Stil pflegen. Ich verstehe mich als Volkskanzler." Er meinte wohl, ein Politiker, der so wie Figl und Kreisky von einer Mehrheit der Bevölkerung geschätzt und geachtet wird - das ist gehörig misslungen.
Zurück zu Herbert Kickl. Er hat Volkskanzler genau definiert - in Wahlkampfreden und in Postings, zum Beispiel auf Facebook:
Ich möchte als Volkskanzler die Menschen in den Mittelpunkt meiner Politik stellen. So möchte ich für unsere "Familie Österreich" wie ein fürsorglicher Familienvater sein: Zu unserer Familie zähle ich alle Österreicher - und auch das ist mir wichtig - alle Menschen, die hier leben und arbeiten, die unsere Werte mit uns teilen, die unsere Sprache sprechen, die sich in ihren Herzen mit unserer Heimat identifizieren und sich integriert haben.
Er grenzt also aus, er versucht zu spalten: Wer nicht die Werte der FPÖ teilt, wer sich nicht "mit unserer Heimat identifiziert", der gehört nicht zu "unserer Familie", Ausländer, die keine Arbeit haben, die nicht gut Deutsch sprechen, die nicht integriert sind, ebenfalls nicht.
Wer so denkt, und wer immer wieder Nazi-Ausdrücke aus der Mottenkiste hervorholt, wer die politischen Mitbewerber als Systemparteien und die Presse sowie den ORF als Systemmedien bezeichnet hat, der ist kein Volkskanzler.
Wobei die FPÖ als zukünftige Kanzlerpartei - danach sieht es jetzt aus - automatisch zu einer Systempartei wird. Und der ORF, sobald er blau eingefärbt ist, zu einem Systemmedium.
Das soll derWählerwille gewesen sein?
Mit dem Ausdruck Wählerwille wird ebenfalls Schindluder getrieben. Vier Parteien zogen mit dem Slogan "Kickel darf nicht Kanzler werden!", in den Wahlkampf: Die ÖVP erhielt 26,3 Prozent der Stimmen, die SPÖ 21,1 Prozent, die Neos 9,1 Prozent und die Grünen erhielten 8,2 Prozent - das sind 65 Prozent, also rund zwei Drittel der Wähler. Die FPÖ kam hingegen nur auf 28,8 Prozent, das ist weniger als ein Drittel der Wähler.
Da Karl Nehammer die Grünen von vornherein ausschloss und die Neos nicht bei der Stange halten konnte, war der Auftrag, eine Regierung zu bilden, gescheitert - mit den zerstrittenen Sozialdemokraten als einzigen Partner und einer Mehrheit von nur einem Mandat, ist kein Staat zu machen.
Aber trotzdem gilt: Es war nicht der Wählerwille, dass Kickel als Bundeskanzler einer Regierung vorsteht.
Und dass er jemals ein Volkskanzler wie Figl oder Kreisky werden wird, halte ich für wenig wahrscheinlich.
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Dieser Blog ist die Aktualisierung des Beitrags vom 23. Oktober 2024.
Wie kompliziert das mit Worten ist, die einen politischen Hautgout haben, sieht man bei „Volk“ sehr gut:
1. Der „Volksgerichtshof“ der Nazis ist wohlbekannt – insbesondere dessen berüchtigter Präsident Roland Freisler.
2. Aber wer weiß schon (noch), was ein „Volksgericht“ war? Wikipedia schreibt dazu: Die Volksgerichte (nicht zu verwechseln mit dem Volksgerichtshof) waren außerordentliche Gerichtshöfe, die im Nachkriegsösterreich nach Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 bis 1955 zur Ahndung von NS-Verbrechen eingerichtet wurden. […]Die Volksgerichte wurden bei den Landesgerichten am Sitz der Oberlandesgerichte (bereits 1945 in Wien und ab 1946 – nach Anerkennung der Provisorischen Regierung durch die westlichen Alliierten – auch in Graz, Linz und Innsbruck) eingerichtet. Für die Volksgerichtsverfahren waren die Bestimmungen der österreichischen Strafprozessordnung über Berufung und Nichtigkeitsbeschwerde außer Kraft gesetzt worden. Nur der Präsident des Obersten Gerichtshofs hatte die Möglichkeit, das Urteil aufzuheben.
Die Volksgerichte waren Schöffengerichte, bestehend aus drei…