Nachdem ich an dieser Stelle vor zwei Wochen einen Text über das Schlieferl geschrieben hatte, bekam ich eine Nachricht von meinem Freund Herbert: "In der von dir genannten Bedeutung kenne ich das Wort Schlieferl nicht. Aber meine Mama bezeichnet eine Art von Teigwaren als Schlieferln. Das scheint ein gängiger Ausdruck der Wiener Küche zu sein. Und die Etymologie?"
Ich muss also einiges nachholen und bedanke mich bei Herberts Mutter für diesen Hinweis. Sowohl auf www.duden.de als auch im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, abrufbar unter www.dwds.de, ist das Schlieferl zu finden, mit zwei Bedeutungen:
(a) kriecherischer Mensch (der sich bei Vorgesetzten einzuschmeicheln versucht)
(b) Hörnchennudel (meist als Beilage serviert).
Bei meinen Eltern gab es nur Hörnchen, keine Schlieferln. Sind Schlieferln besondere Hörnchen?
Auf meine Frage hin macht Herberts Mama ein Foto mit ihren im Glas aufbewahrten Hörnchen und schickt es mir via Sohn per Mail. Es sind die klassischen Hörnchen, wie ich sie aus meiner Jugend kenne!
Meine Mutter machte sie mit faschiertem Schweinefleisch. Weitere Zutaten waren eine Knoblauchzehe, Majoran, Öl, ein Suppenwürfel - als Bub war es eine meiner Lieblingsspeisen, ich habe beim Kochen oft zugeschaut.
Die Schweizer sagen zu diesen hornförmig gebogenen und hohlen Teigwaren Hörnli, die Italiener betrachten ihre Cornetti oder Chifferi als eine Unterkategorie von Pasta.
Zur Bedeutung "kriecherischer Mensch" möchte ich den großartigen Text "Was ist ein Schlieferl?" von Anton Kuh nachliefern. Er wurde 1931 erstmals veröffentlicht und ist im Internet bisher nicht zu finden. Kuh schreibt einleitend, dass "das Wort, heute weit verbreitet, vor etwa zwanzig Jahren auf die Welt kam".
Es hätte sich kein besseres Datum wählen können als jenen Wendepunkt, wo die soziale Frage das Volkssängeridyll störte und der romantische, mit Nestroyschen und O. F. Bergschen Wassern getaufte Hallodri anfing, ein Existenzakrobat zu werden; wo der Raum zu eng wurde und die Konsumenten des Frohsinns allmählich hinter der Zahl der Produzenten zurückblieben.
Aber das Schlieferl - im Gegensatz zum später aufgekommenen "Schieber" war doch noch Geist vom Vorzeitgeiste. Es war ein Diminutiv. Es war ein "-erl". Dieses Suffix bedeutet: "Die Menschen beschimpfen dich - Gott hat dir vergeben; du bist ein Galgenstrick - aber du bist harmlos; auch dein Mangel an Charakter entbehrt nicht landsmännischen Schliffs". - Welche Welt der sozialen Versöhnlichkeit offenbart eine Silbe!
Die Etymologen waren sich über das Schlieferl nicht gleich einig. Die einen leiteten es fälschlich von schleifen ab (aus der Vorstellung gleitender, schwebender Bewegung); die anderen richtig von "schlüpfen". Folglich stellt sich die Definition des Schlieferls, als eines vornehmlich sozialphysikalischen Phänomens, so dar: Ein Bevölkerungsmolekül, das vermöge geringen spezifischen Gewichtes und mit noch geringerer Berechtigung leicht durch alle Poren von Klasse, Beruf, Gesellschaft "hindurchschlüpft". Ein Schlüpferl. Es beliefert die Einwohnerzahl mit den Nullen. Es ist, wo es sich immer befindet, unzuständig: sei es in Literatur, Geschäft, Gesinnung oder Liebe; aber es erbringt durch Schmiegsamkeit seine Aufenthaltsbewilligung.
Wo es zu viel Raum gibt, wird es auch Schlieferln geben; wo an den äußersten Berufsästen noch Menschen hängen - Okkasionsverdiener. Daher können sie in der Weltstadt nimmermehr aussterben. Zudem kommen bei der Überproduktion an Menschen immer etliche unfertig, nicht ganz durchgearbeitet, ohne Gewissen heraus. Dies aber ist des Schlieferls charaktereologischer Inhalt: ohne Charakter zu sein. Es ist der Mensch ohne Vorzeichen. Es muß nicht müssen, aber es kann reichlich können. Wenn ihm dieses Geschick als Verhängnis aufzudämmern beginnt, dann hört es auf, ein Schlieferl und fängt an, ein Ethiker zu sein. Der Windbeutel wächst zum Sturmgesellen. [...]
Aus: Anton Kuh, Luftlinien, Verlag Löcker 1981, Seite 34-36
Dass ein Schlieferl eigentlich ein Schlüpferl ist, wie Anton Kuh schreibt, erhellt die Etymologie. Aber warum werden die Hörnchen in Wien als Schlieferln bezeichnet? Weil sie durch die gebogene Hohlform die gewürzte Fleischsoße besonders gut aufnehmen? Es sind noch weitere Schlieferl-Forschungen vonnöten.
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